Strengreligiöse Juden, sogenannte Charedim, sind im 21. Jahrhundert im stark wachsenden Maße Sujet für Darstellungen im Mainstream-Film, speziell in israelischen und internationalen (Mini-)Serien wie „Unorthodox“ und „Shtisel“. Zeitgleich zu der großen Zahl charedischer Protagonisten auf der Leinwand der säkularen Kinokultur floriert seit den frühen 2000er Jahren ein konfessionelles, strengreligiös-jüdisches Filmschaffen in Israel. Speziell charedische Filmemacherinnen prägen das Bild einer sich kontinuierlich professionalisierenden religiösen Film- und Kinoszene. Das Projekt “Jüdische Ultraorthodoxie und Film” möchte das Phänomen des strengreligiösen jüdischen Kinos in Israel unter film- und medienwissenschaftlichen sowie religionswissenschaftlichen Aspekten untersuchen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben fundamentalistische monotheistische Bewegungen weltweit Zulauf – von evangelikalen Freikirchen in den USA, Lateinamerika und Afrika, über radikalislamische Strömungen im Nahen und Mittleren Osten und Europa, bis hin zu extremistisch-jüdischen Gruppen in Israel, den USA und Westeuropa. Innerhalb des Judentums ist die Gruppe der „Charedim“, der streng religiösen „Gottesfürchtigen“, die am schnellste wachsende Bevölkerungsgruppe mit heute circa 2 Millionen Menschen. Charedim interpretieren ihr Judentum im scharfen Gegensatz zu zeitgenössischen säkularen Ideen wie Demokratie, Meinungsfreiheit, Liberalismus, Gendergerechtigkeit und Kinderrechte, sie legen das jüdische Religionsgesetz, die Halachah, strenger aus als andere jüdische Denominationen und sie versuchen, sich von „nichtjüdischer Kultur“ abzugrenzen. So lehnen die religiösen Führer (Rabbiner) der Charedim traditionell das Medium Film und das Kino als „säkular“, „unjüdisch“ und „gefährlich für die moralische Verfasstheit“ der eigenen Gesellschaft ab. Film entspricht, so die Meinung, nicht den religiösen Werten von Reinheit, d.h. Züchtigkeit, Geschlechtertrennung, Verbot von grober Sprache und übler Nachrede, Verbot von offener Kritik an der eigenen Gesellschaft. Doch im Zuge der Entwicklung neuer Technologien, der Verbreitung des Internets und der Diversifizierung innerhalb der charedischen Gesellschaft setzen sich Teile der Gemeinschaft konsequent über das rabbinische Verbot, Filme zu schauen und Filme zu machen, hinweg. In Israel und in den USA wächst seit den frühen 2000er Jahren sowohl die Zahl des charedischen Publikums als auch der charedischen Filmemacherinnen stetig an. So entstand in den letzten Jahrzehnten ein eigenes, konfessionelles charedisch-jüdisches Kino, das sich an die Grundpfeiler des streng religiösen Judentums hält: Geschlechtertrennung, Verbot von grober Sprache, Verbot von Gewaltdarstellung und Sexualität, Verbot von direkter Kritik an der Lebensform der Charedim und an der religiösen Führerschaft. Das Segment der charedischen Männerfilme wurde im Jahr 2010 in Israel von den dortigen Rabbinern verboten. Es existiert aktuell nur noch in Nordamerika. Jedoch floriert seitdem das charedische Frauenkino, bei dem Frauen Filme für Frauen und Mädchen machen und Männer (offiziell) nicht Teil des Produktionsprozesses und des Zielpublikums sind. Israelisch-charedische Filmemacherinnen wie Dina Perlstein, Tali Avrahami, Zilah Schneider und Rama Burszteyn suchen über das Genre des Melodramas hinweg Wege, das auf der Leinwand Zeig‑, Sag- und Kritisierbare auszureizen. Charedische Frauenfilme, ein international einzigartiges Phänomen, sind, trotz ihrer dramaturgischen und inhaltlichen Beschränkungen, Ausdruck eines „stillen Feminismus“ in der repressiven charedischen Gesellschaft. Das Projekt „Charedisches Kino – der einzig echte ‚jüdische Film‘?“ möchte die Produktionsbedingungen und die Rezeptionsumgebungen des charedischen Kinos untersuchen.
Filmographie Ultraorthodoxie und Film
Я — Иван, ты — Абрам. FR/BLR 1993, Yoland Soberman, 105 Minuten
Arranged. USA 2007, Diane Crespo, Stefan Schaefer, 92 Minuten
Der Dibuk. PL 1937, Michal Waszynski, 125 Minuten
Der Golem, wie er in die Welt kam. D 1920, Paul Wegener, 87 Minuten
Disobediance. UK/IRL/USA 2017, Sebastián Lelio, 114 Minuten
Driver. IL 2017, Yehonatan Indursky, 92 min
Félix et Meira. CAN 2014, Maxime Giroux, 105 Minuten
Fiddler on the Roof. USA 1971, Norman Jewison, 179 Minuten
Jud Süss. D 1940, Veit Harlan, 98 Minuten
HaChasan vehaYam, IL 2010, Yehonatan Indursky, 25 Minuten.
HaMaschgichim. IL 2012, Meni Yaish, 102 Minuten
Jentl. USA 1983, Barbra Streisand, 133 Minuten
Kaddosh. IL/ FRA 1999, Amos Gitai, 116 Minuten
Kuni Lemel beTel Aviv. IL 1977, Joel Silberg, 94 Minuten
Kuni Lemel beKahir. IL 1983, Joel Silberg, 90 Minuten
Les Aventures de Rabbi Jacob. FR 1973, Gérard Oury, 95 Minuten
Menashe, USA 2017, Joshua Z. Weinstein, 81 Minuten.
Merchak Negiah. IL 2006/07, Arutz 2, 1 Staffel/ 8 Folgen
Shney Kuni Lemel. IL 1966, Israel Becker, 120 Minuten
Shtisel. IL 2013–2020, Yes-Oh, KAN 11, 3 Staffeln/ 33 Folgen
The Chosen. USA 1981, Jeremy Kagan, 108 Minuten
The Frisco Kid. USA 1979, Robert Aldrich, 119 Minuten
The Secrets. IL 2007, Avi Nesher, 120 Minuten
The Vigil. USA 2019, Keith Thomas, 89 Minuten
The Yankels. USA 2009, David R. Brooks, 115 Minuten
Train de vie. FR/BEL/IL/NL/ROM 1998, Radu Mihăileanu, 103 Minuten
Unorthodox. D/USA/IL 2020, Netflix, 1 Staffel/ 4 Folgen
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse, SUI, 2018, Michael Steiner, 93 min.
Die Forschungsgruppe wird vom PostDocNetwork Brandenburg gefördert.