Der Komplex Antisemitismus und Film ist in der Forschung als abstrakter Zusammenhang bisher kaum berücksichtigt worden. Das Forschungsprojekt setzt sich zum Ziel, dieses undurchsichtige Feld zu strukturieren. Dabei sollen nicht Darstellungen von Juden und Jüdinnen, sondern vielmehr Diskurse über Film im Fokus stehen. Unter Berücksichtigung der historischen, soziokulturellen und medientechnologischen Kontexte analysiert das Projekt, wie über Filme diskutiert wird, die als antisemitisch wahrgenommen werden und welche Funktion dem Antisemitismus jeweils zugeschrieben wird. Werden die jeweiligen Verständnisse von Antisemitismus decodiert, lassen sich strukturelle Merkmale von Antisemitismus und Film aufdecken, die über den einzelnen Film hinausgehen.
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Wird der Gegenstand ‘Jüdischer Film’ als Erfahrungsraum an der Schnittstelle zwischen Judentum und Film definiert, so muss auch Antisemitismus ‒ als zentraler Aspekt jüdischer Erfahrung ‒ in die Untersuchung des Sujets miteinfließen. Haben antisemitische Darstellungsweisen im Film in der Forschung bereits große Beachtung gefunden, wie zahlreiche Beispiele zur Analyse des nationalsozialistischen Propagandafilms belegen, so steht eine Untersuchung des abstrakten Zusammenhanges Antisemitismus und Film noch aus. Die Schwierigkeit, zu einem eindeutigen Verständnis des Themenkomplexes zu gelangen, liegt nicht zuletzt in seiner interdisziplinären Versprengtheit begründet. Gleichzeitig stellt diese Interdisziplinarität auch die große Chance des Gegenstandes dar. Diesem Verständnis folgend, ist es das zentrale Anliegen des Dissertationsprojektes, die disparaten Forschungsansätze zusammenzutragen und einzuordnen, um zu einer Strukturierung des Komplexes zu gelangen. Dazu soll zunächst eine Typologie der Forschungsliteratur zu Antisemitismus und Film entwickelt werden, die ihre disziplinären Verortungen und die jeweiligen Verständnisse von Antisemitismus berücksichtigt. Dadurch können die verschiedenen Ebenen, auf denen die Zusammenhänge von Antisemitismus und Film ausgehandelt werden, weiter ausdifferenziert werden. Diese erstrecken sich von Diskursbeiträgen wie Filmrezensionen bis hin zum Kino als Ort, wenn beispielsweise ein Kino zur Austragungsfläche von Protesten für oder gegen einen bestimmten Film wird.
Während sich die bisherige Forschungsliteratur im Bereich Antisemitismus und Film verstärkt filmischen Texten gewidmet hat, macht das Dissertationsprojekt den Vorschlag, Diskurse über Film in den Fokus zu rücken. Diese Betrachtungsweise umgeht den potentiellen Fallstrick, Antisemitismus nur am (einzelnen) filmischen Text bzw. an der angenommenen Geisteshaltung der Filmemacher:innen auszumachen. Demgegenüber werden in dem Forschungsprojekt die Prozesse der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Film fokussiert, um der Dynamik des Gegenstands Antisemitismus gerecht zu werden und dessen diskursive Verschiebungen aufdecken zu können. In der Frage, welche Argumentationsmuster in Diskussionen um Antisemitismus und Film bedient werden und welche Funktion dem Antisemitismus jeweils zugeschrieben wird, kann ein differenzierteres Bild eines als antisemitisch diskutierten Films gezeichnet werden. Liest man verschiedene Debatten zusammen, können ihre jeweiligen inhaltlichen sowie strukturellen Muster zudem Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten in den Diskursen zutage bringen, anhand derer die Bedeutungen von Antisemitismus im Kontext einer jüdischen Filmgeschichte konkretisiert werden können. Diese Perspektive macht es möglich, nicht nur die spezifischen historischen, politischen und soziokulturellen Kontexte zu berücksichtigen, sondern auch die jeweiligen Sprecher:innenpositionen sowie innerjüdische Diskurse mit einzubeziehen.
Die Forschungsgruppe wird vom PostDocNetwork Brandenburg gefördert.